Als ich mich vor 10 Jahren auf die Suche nach Literatur zum Problem untröstlich schreiender Säuglinge begab, stieß ich in einzelnen Berichten populärer Elternzeitschriften auf
den Namen Mechthild Papoušek und ihre damals noch junge Einrichtung der »Münchner Sprechstunde für Schreibabys«. Infolge meiner Kontaktaufnahme sandte sie mir freundlicherweise eine Auswahl von Sonderdrucken aus der Zeitschrift »Sozialpädiatrie in Praxis und Klinik«, wissenschaftliche Artikel zur Thematik des Schreiens im frühen Säuglingsalter, anhand derer ich mich mit Hilfe der Bibliographien weiter hangelte. Während mein in dieser Hinsicht praktisch versierter Mann diverse Artikel aus In- und Ausland per Fernleihe zu ordern begann, durchforstete ich den Bestand der Bremer Uni-Bibliothek mit einer bemerkenswert spärlichen Ausbeute.
Die damals verfügbaren, überwiegend englischsprachigen Studien waren für einen medizinischen Laien wie mich wenig aufschlussreich. Am Ende der Ursachensuche befand ich mich, wo
ich angefangen hatte mit dem – umgangssprachlich formulierten – Ergebnis: Nichts Genaues weiß man nicht.
Allerdings lag mir ohnehin weniger an theoretischer Forschungsarbeit als vielmehr dem Ausbau eines Angebotes wirksamer Hilfsmaßnahmen für verzweifelte Schreibaby-Eltern, zu denen
auch ich einst gehörte. Vor allem galt es, die verbreiteten Schuldgefühle zu hinterfragen, welche sich aus pauschalen Urteilen nährten, Eltern von Schreibabys seien unfähig, überängstlich oder gar
neurotisch, verwöhnten ihre Kinder und sollten einfach strenger durchgreifen, bis das Problem sich von selbst erledige.
Dass dem nicht so war (und ist), erfuhr ich aus vielen Erfahrungsberichten Betroffener, die mir näher lagen als wissenschaftlich verallgemeinernde Untersuchungen, in denen der
Mensch als Fall oder gar Nummer »objektiviert« erscheint. Eindeutig war für mich, dass die Eltern alles gaben, was in ihrer Macht lag, dass sie ihre Liebe zum Kind offen auslebten, indem sie sich selbst
opferten und beschuldigten, um aus Angst vor weiteren Übergriffen vermeintlich besser wissender Ratschläger ihre Suche nach Hilfe resigniert einzustellen und sich sozial zurückgezogen durch eine schwere
Zeit zu kämpfen, die lebenslängliche Spuren lässt.
Ob wissenschaftliche Ergebnisse richtig oder falsch sind, ist für betroffene Eltern kaum nachprüfbar. Wohl aber erfassen sie intuitiv, ob die Menschen, welche sich
wissenschaftlicher Arbeit bedienen, ihre subjektive Betroffenheit und Verletzlichkeit berücksichtigen, statt mit vorschnell ausgesprochenen Diagnosen am eigentlichen Problem vorbei zu urteilen. Die
Verantwortung wissenschaftlich Forschender ist enorm, ihre Arbeit bezieht lebendige Menschen ein mit der Gefahr, zwischen den Mühlrädern verallgemeinernder Objektivierung um ihre einzigartige Seele
gebracht zu werden. Der Balance-Akt zwischen »Subjekt« und »Objekt« gerät leicht zu einem Kampf, dem Einzelne (Subjekte) ohnmächtig erliegen. Die Macht der Wissenschaft und ihrer medialen Verbreitung ist
in unserem Land auch in politischer Hinsicht nicht zu unterschätzen. Anerkennung und finanzielle Unterstützung erhält, wer dem verbreiteten Meinungsbild entspricht, den Anforderungen wissenschaftlich
anerkannter Methoden Genüge leistet.
Einer solchen nahezu unendlich schwierigen Forschungsarbeit haben sich um Mechthild Papoušek herum verantwortungsbewusste Fachkräfte gewidmet, deren Ergebnisse nun in Form eines komplexen Bandes mit dem Titel »Regulationssstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen«, herausgegeben von Mechthild Papoušek, Michael Schieche und Harald Wurmser,
im Verlag Hans Huber veröffentlicht wurden.
»Das vorliegende Buch gibt eine erste zusammenfassende, wissenschaftlich und klinisch fundierte Darstellung der häufigsten Regulationsstörungen der ersten Lebensjahre im
Entwicklungskontext von Eltern-Kind-Kommunikation, Bindung und Beziehung. Sie umfassen ein buntes Spektrum von Störungsbildern, vom frühen exzessiven Schreien über Schlaf-, Fütter- und Gedeihstörungen
und Störungen der Affekt- und Aufmerksamkeitsregulation bis hin zu Störungen der Bindungs-Explorationsbalance und der Abhängigkeits-Autonomiebalance. Das Buch verbindet Beiträge namhafter Autoren aus
unterschiedlichen Disziplinen mit den Forschungsergebnissen und zwölfjährigen klinischen Erfahrungen aus der „Münchner Sprechstunde für Schreibabys“ und dem aktuellen Forschungsstand der
internationalen, interdisziplinären Literatur. Es spannt den Bogen zwischen wissenschaftlichen Grundlagen und Daten über klinische Beobachtungen und anschauliche Fallanalysen bis hin zur praktischen
Anwendung in Diagnostik, Beratung und Psychotherapie.« (S. 8)
Die Lektüre der ausführlichen Darstellung statistischer Auswertungen fiel mir mangels Hintergrundwissen sowie Kenntnis um die spezifischen Vorgehensweisen der angewandten
Methoden nicht leicht. Zudem mangelt es mir an unverzichtbaren Bildungs-Voraussetzungen zum Verständnis medizinischen Fach-Vokabulars. Die von Ratsuchenden häufig begehrten eindeutigen Antworten bleiben
unter Berücksichtigung der Vielfalt auftretender Störungen und ihrer möglichen Ursachen meist aus, scheinen jedoch hinsichtlich der praktischen Behandlungserfolge, die mit Hilfe anschaulicher
Fallbeispiele im letzten Teil des Buches dargestellt werden, zunächst verzichtbar.
Mit wenigen Worten lässt sich die Fülle des auf 400 Seiten dokumentierten Forschungsmaterials kaum und schon gar nicht angemessen zusammenfassen. Das Buch sei demnach vor allem
als wissenschaftliches Nachschlagewerk empfohlen und bietet engagierten Helfern zugleich eine reichhaltige Sammlung fachlich fundierten »Beweismaterials« bei der Beantragung finanzieller
Förderungsmaßnahmen. Hubertus von Voss vom Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München bringt es im letzten Absatz des letzten Kapitels treffend sowie allgemein verständlich auf den Punkt, wenn er schreibt:
»Es ist wichtig, dass Familien- und Sozialpolitik gemeinsam mit Fachleuten und Medien dafür Sorge tragen, dass Paare mit ihrem Entschluss zur Elternschaft sowie die
Schwangerschaft und Geburt eines Kindes in Familie und Gesellschaft einen schützenden und stützenden Empfangsraum finden, in dem die Würde des neuen Lebens ebenso elementar ist wie die Wertschätzung
beider Eltern in ihren Rollen als Mutter und Vater, und in dem Kind und Eltern diese einzigartige und unwiederbringliche Entwicklungsphase positiv erleben und gestalten können. Dies muss in besonderem
Maße auch für „schwierige“ Säuglinge und „Schreibabys“ gelten, für ihre in der Regel hoch belasteten Eltern und für alle Familien mit multiplen Risikobelastungen und geringen eigenen
Ressourcen. Anstelle von Abwertung und Ausgrenzung sind Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber den betroffenen Familien in Nachbarschaft und gesellschaftlichem Umfeld vonnöten. Die Solidargemeinschaft
muss sich kritisch fragen lassen, welche Bedeutung sie der Familie und dem Aufwachsen von Kindern zumessen will, und bereit sein, weitaus mehr als bisher die Rahmenbedingungen zum Schutz und zur Stützung
der Familie weiter auszubauen und abzusichern.« (S. 398)
Jutta Riedel-Henck, 4. Juni 2004
Weiterführende Links
GAIMH, Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit e. V.
Verlag Hans Huber
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