trostbanner10
Schreibaby
Schlafen
Hyperaktiv
Familie
Therapie ...

Rezension 3
Therapie, Forschung

bestell_white45
BonneyTherapie02

Helmut Bonney

Kinder und Jugendliche in
der familientherapeutischen Praxis

176 Seiten, kartoniert
€ 19,95
Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg
September 2003
ISBN 3-89670-418-4

Wenn ich ein Buch lese, um es zu rezensieren, lese ich das Buch, um es zu rezensieren, also lese ich es mit der Intention, den mir zu diesem Zeitpunkt unbekannten Lesern des Buches, das sie noch nicht gelesen haben, etwas mitzuteilen. Warum eigentlich? Kann nicht ein jedes Buch allein im Raum stehen, um frisch und frei in die Hände seiner zukünftigen Leser zu gelangen? Bedarf es einer Empfehlung? Eines Portiers, einer »Vorzimmerdame«?

Während ich also ein Buch lese, um es zu rezensieren, gehen mir unendlich viele Gedanken durch den Kopf, die mit dem Inhalt des Buches, das ich lese, wenig zu tun haben. Oder etwa doch?

Ich bin immer wieder verblüfft über das, was ich anschließend schreibe. Denn es ist dem, was ich während des Lesens mir zusammen denke, meist vollkommen entrückt. Fast scheint mir, denke ich all das während des Lesens, damit ich anschließend einen freien Kopf habe, um etwas zu schreiben, was auch mich überrascht, mir neu ist, d. h. ich suche beim Lesen weniger nach Übereinstimmungen bzw. Streitpunkten, um diese anschließend zu untermauern oder ihnen zu widersprechen. Ich suche vielmehr, ohne etwas zu suchen, d. h. ohne zu wissen, was ich suche, denn das kann ich ja erst wissen, wenn ich es gefunden habe. Niemand kann aber nach etwas Neuem suchen und während der Suche wissen, was er sucht, um es zu finden.

Dieses suchende Nichtsuchen ist nicht zugleich ausgedrückt in der viel zitierten Phrase »Der Weg ist das Ziel«. Denn der Weg ist nicht das Ziel, sondern der Weg, der gegangen wird, ohne das Ziel zu kennen, soll zu einem Ziel führen, das wir irgendwann zu erreichen hoffen, ohne zu wissen, an welcher Stelle es uns auf welche Art und Weise offenbart wird. So selbstvergessen gehen wir schließlich einen Weg, um das Ziel aus dem Bewusstsein zu verlieren oder unsere Aufmerksamkeit in die Breite, die nahezu endlose Weite zu streuen. Loslassen von dem Bild, das uns eng vor Augen hockt wie ein Balken, der die Sicht versperrt und damit unsere sinnliche Wahrnehmung extrem einschränkt, die wir benötigen, um uns in der Welt fort zu bewegen und weiter zu entwickeln.

 

Helmut Bonney geht seinen Weg gewissenhaft. Kompetent, sachlich, ruhig und erfahren wirken seine Ausführungen, denen ich im Einzelnen nicht immer zu folgen verstand, da mir ein entsprechendes Vor- und Hintergrundwissen um zitierte Autoren und ihre Studien (-richtungen) fehlt. Geübt darin, mich nicht von fachspezifischen Fremdwörtern und einer mir weniger geläufigen Sprache einschüchtern zu lassen, vertraute ich auf einen verborgenen Sinn als Ziel des Leseweges und wurde tatsächlich nicht enttäuscht.

Wer auf praxisnahe Rezepte für die familien-therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hofft, die das experimentelle Denken und Handeln vorwegnehmen oder gar ersetzen, könnte sich mit diesem Buch schwer tun und dem Autor (zu Unrecht) vorwerfen, am Wesentlichen vorbei zu schreiben. Das Wesentliche aber besteht nicht in allgemeinen immergültigen Denk- und Behandlungskonzepten, sondern im Wesen jener, die in der therapeutischen Praxis um Hilfe suchen, nachdem (nicht selten) diverse Hilfesysteme versagt hatten und die Betroffenen noch hilfloser zurückblieben als zuvor.

Gerade im Umgang mit psychischen Problemen, die sich in der (zwanghaften) Wiederholung störender Muster manifestieren, versagen allzu logisch durchdachte Behandlungskonzepte. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie haben einen Schluckauf. Natürlich wissen Sie, dass Ihr Zwerchfell zuckt, vielleicht können Sie es auch mit einem Bleistift aufzeichnen oder an Hand eines plastischen Modells nachvollziehen, wie eine solche Zuckung verläuft. Womöglich kennen Sie auch diverse Tricks wie »Luftanhalten und bis 1000 zählen«, sich erschrecken lassen oder mit zugehaltenen Ohren fünf Schluck Wasser trinken. Dennoch: der Schluckauf will sich nicht lösen … was hilft die graue Theorie und die Kenntnis all der Tricks, wenn der Kopf sich zwanghaft auf das Ende des Schluckaufs konzentriert? Wie sollen Sie sich noch erschrecken, wenn Sie wissen, dass Sie sich erschrecken wollen? Wie sollen Sie sich selbst überraschen mit etwas, das Sie ja gar nicht kennen können? Auf das Sie nicht vorbereitet sein dürfen?

Wie also sollen wir Menschen unsere psychisch festgefahrenen Probleme lösen, wenn wir (krampfhaft) glauben, sie bereits zu kennen? Tun wir das wirklich? Hätten wir sie dann?

Genau diesem Dilemma sehe ich vor allem jene Menschen ausgesetzt, die sich intellektuell mit der Psyche des Menschen befassen. Sie haben viel gelesen, diverse Vorlesungen und Seminare besucht, können Unmengen von Fakten zitieren, benutzen ein spezifisches Vokabular, nicken viel wissend mit Blick über die auf der Nase geparkten Lesebrille ihrem untergebenen kleinen Häufchen Patienten-Seelen-Elend zu, klopfen ihm väterlich auf die Schulter und zücken den Rezeptblock bzw. heutzutage die Tastatur ihres multimedialen Schreibgerätes mit strahlungsarmem Bildschirm und Netzverbindung zur informationstechnisch versierten Vorzimmerdame. Störung ABC mit RTHI und U89 nach Test Mayerdirks in Anlehnung Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. Allesweiß. Dazu verschreiben wir (!) noch ein feines leicht dämpfendes und natürlich sanftes Mittelchen zur Reiz hemmenden Begleitung des planvollen Therapieplanes nach Planungsverfahren OÜ**, welches die Krankenkassen (noch) Kosten regulierend abzurechnen bereit und fähig sind.

Ob den Patienten oder Klienten (wie immer sie auch genannt werden) damit geholfen ist, spielt keine grundlegende Rolle. Hauptsache, es tut sich was. Oder auch: Hauptsache, es sieht nach etwas aus, was sich da tut. Und das tut es. Also nach viel aussehen.

Was aber, wenn nun jemand kommt und von den Ärzten, den Therapeuten verlangt, sie mögen den Mut entwickeln, sich aus diesen (vermeintlich) logischen Behandlungstechniken zu verabschieden, um den Erfindergeist zu mobilisieren? Erfindergeist? Wo gibt es den zu kaufen? In welchem Handbuch kann ich ihn nachlesen? Worauf soll ich mich da berufen? Das ist doch alles überhaupt nicht abgesichert!

Wirklich nicht? Und wenn der Schluckauf plötzlich verschwunden ist? Wenn es gelingt, das Unerwartete als solches zu erforschen mitsamt seiner Wirkungen auf die Psyche und damit zugleich das körperliche Geschehen? D. h. wie soll der Mensch etwas erforschen, das er nicht kennt, da er es gar nicht zulässt? Vereinfacht gesagt: Wie soll ich wissen, wie ein Apfel schmeckt, wenn ich nicht hinein beiße?

Lange Rede, kurzer Sinn … möchte ich fast sagen, wenn ich mir meine Zeilen bis hierher anschaue. Denn im Einzelnen gebe ich damit kaum wieder, was in Bonneys Buch geschrieben steht. In diesen Apfel müssen Sie selbst beißen. Ob es Ihnen schmeckt, vermag ich nicht im geringsten zu beurteilen. Lassen Sie sich überraschen!

Jutta Riedel-Henck, 25. November 2003

 

Weiterführende Links

Systemisches Seminar Heidelberg
Dr. med. Helmut Bonney, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Kinderheilkunde; außerdem: www.erfindungsgeist.de

Eine auf das Buch konkret eingehende hilfreiche Rezension findet sich bei Amazon (23.9.2003)

siehe auch Rezension von »Neues vom Zappelphilipp« (Hüther/Bonney)

 

Seitenanfang

Rezensionen-Übersicht: Therapie, Forschung

Rezensionen-Übersicht: Trostreich

 

© 2003 Jutta Riedel-Henck