Die Emotionelle Erste Hilfe, so der Autor Thomas Harms in seinem Vorwort, verfolgt einen neuen Weg:
»Der Ansatz nutzt das Wissen und die Methoden der modernen Psychotherapieforschung, um sie im Feld der Prävention und Bindungsförderung einzusetzen. […] Das neue
Paradigma dieses Frühberatungsmodells ist der Körper, den wir in den Mittelpunkt stellen, um die frühen Bindungsprozesse zwischen Eltern und ihren Babys positiv zu unterstützen. Die Eltern lernen in
diesem Ansatz, ihren Körper als Informationsquelle für den Kommunikationsprozess mit dem Kind zu nutzen. Im Rahmen der Beratungen lernen sie, auf ihre Körpersignale, Wahrnehmungen und
Ausdrucksprozesse zu achten, die in unserer schnelllebigen Welt häufig eine untergeordnete Rolle spielen. Durch diesen Weg zu den inneren Körperwelten schaffen wir in der EEH die neurophysiologischen
und emotionalen Grundlagen, die Eltern benötigen, um mit ihren Kindern eine sichere und stabile Bindungsbeziehung aufzubauen.« (S. 13-14)
Zwischen diesen einleitenden Zeilen und seinem Fazit liegen 228 Seiten, die sich beim Lesen wie eine abenteuerliche Reise gestalten, um zu der in einem Gleichnis beschriebenen
Schlussfolgerung zu gelangen, dass viele Probleme sich von alleine lösen würden durch den Abbau künstlicher Dämme, von deren Errichtung sich die Menschen einst Vorteile erhofften, um aufs Ganze
betrachtet das Gegenteil erreicht zu haben. (S. 242)
Dem vertrauten Fließen naturgegebener Strömungen entfremdet und die zur Gewohnheit gewordenen Kämpfe wider den Energiefluss ursprünglicher Quellen pflegend, gilt die
Rückbesinnung auf vertraute Schöpfungsgesetze als neu, während sie zum ältesten Gut der Menschheit gehören, ohne die niemand von uns existieren würde. Vielen Menschen wird erst spät, manchmal zu spät
bewusst, dass ihre Probleme hausgemacht sind wie Marmelade, deren Süße uns das verkaufte Paradies nicht zu ersetzen vermag, und nicht selten führt ihr übermäßiger Konsum in eine Spirale sich
hochschaukelnder Verirrungen auf der Suche nach einem gewissen Etwas: Dem Wissen um sich selbst durch unmittelbare Erfahrung und Hingabe an das Leben mit all seinen Bewegungen: Emotionen.
Notärzte haben keine Gelegenheit zu wählen, wohin sie gerufen werden, um erste Hilfe zu leisten. Ihr häufigster Einsatzort sind Krisengebiete. Dort, wo all die künstlich
errichteten Bunker, Sperren, Dämme, Schranken, Burgen und Schlösser einzufallen drohen, nachdem sie den Bewohnern zum einzig vertrauten Ersatzheim geworden sind, da der Einzelne verlernt hat, auf sein
naturgegebenes Haus achtzugeben: den Körper. Statt sich in stetem Austausch von seinen Signalen durch feinsinnliche Wahrnehmung und Reflexion von Ursache und Wirkung leiten zu lassen, sucht der
gesellschaftsorientierte Mensch mit Hilfe nach außen gerichteter Fühler, was er in seinem Inneren meidet: Die (eigen-) verantwortliche Verwaltung seines Selbst.
Wie die nimmersatte Frau des Fischers im Märchen nach einem immer größeren Palast und Status verlangt in dem Glauben, Befriedigung durch Wunsch erfüllende Wundertäter zu finden,
statt sich ihrer eigenen Sinne zu bedienen und genießen, was der Tag ihr bringt mit seinen Früchten im eigenen für das Selbst völlig ausreichenden Garten (Paradies), so verschlingt der moderne Mensch
bergeweise Bücher, in denen Probleme hin- und zurückgewälzt, durchgekaut und analysiert werden, dem destruktiven Grübeln Futter bietend, ohne dem wahrhaftigen Übel auf den Grund zu spüren. Zu einfach
schiene die Lösung – zu dünn wären die Bücher (wenn überhaupt vonnöten) – überflüssig ein chronisches Wiederkäuen längst bekannter Probleme – zu mager die Ausbeute Geschäfte machender
Verlage, die von solch scheinbarer Problembewältigung zu existieren versuchen, während die Menschen vergessen, wer das eigentlich ist: ihr Körper, dessen Existenz mit dem Verkauf bzw. Konsum von Büchern
zu füttern sei …
»Emotionelle Erste Hilfe« von Thomas Harms ist keines dieser auf dem Markt verbreiteten »Lebenshilfe-Bücher«, welche dem Leser Lösungen vorgaukeln, ohne auf den Punkt zu kommen. Es ist spürbares Ergebnis eines Erfahrungsweges, den der Autor mit persönlichem Engagement zurückgelegt hat. Sein Ziel wirkt eindeutig, die Wege so verschieden wie die Menschen, welche zu ihm führen.
In der Emotionellen Ersten Hilfe erhält die Mutter leicht nachvollziehbare Weisungen im Umgang mit ihrem Körper, um »sich in ihrem eigenen Organismus« zu erden und verankern,
»indem sie die verschiedenen Informationen ihres Körpers bewusst erlebt und reflektiert«, so dass sie ihrem Kind »jenen emotionalen Halt vermitteln« kann, der ihm »die lösende Kraft des Weinens«
ermöglicht:
»Der wichtigste Weg, mit dem wir diesen Selbstanbindungsprozess während des Schreizyklus des Babys unterstützen und auch kontrollieren, ist die Beobachtung und der Aufbau
einer stabilen Bauchatmung bei den Eltern.« (S. 190) »Die Rückkehr und Konzentration auf die Bauchatmung ist in der Begleitung des schreienden Säuglings ein Schutz- und Sicherheitssystem –
zum einen für die Eltern, zum anderen für die professionellen Helfer. Solange die Mutter, die ihr Baby in den Armen hält, die Verbindung mit ihrem Körper aufrechterhalten kann, ist für eine Erdung
gesorgt. Die Bauchatmung wirkt wie ein Blitzableiter für die Schreie des Säuglings. Viele Eltern beschreiben, dass sie sich durch das Weinen weniger gestresst und belastet fühlen. Plötzlich
beschreiben sie ein Gefühl der Erleichterung, dass es ihnen möglich ist, dem Baby ein Gegenüber zu sein, den zeitweilig verzweifelten Äußerungen des Babys einen Halt zu bieten.« (S. 191)
Betroffene Eltern kennen die Stressspiralen im Ausgeliefertsein an das unaufhörlich scheinende Schreien ihres Babys, das emotionale Mitgerissenwerden mit der Gefahr des Fallens
in einen seelischen Abgrund ohne Aussicht auf Lösung der kriegerisch wirkenden Unruhe. Dass die betreuende Person (insbesondere Mutter) zunächst Halt in sich selbst finden muss, kann ich aus eigener
Erfahrung bestätigen. Ohne mit den Kenntnissen der »EEH« vertraut gewesen zu sein, konzentrierte auch ich mich bei meiner Suche auf die Beruhigung meiner Selbst und hatte am meisten damit zu kämpfen,
mich gegen die reichhaltigen, vermeintlich besser wissenden Ratschläge Außenstehender abzugrenzen und mit hohem Energieaufwand abzuwehren. Sich dieses Recht einzugestehen und in der Praxis umzusetzen,
kostet viel Mut zur »Eigenbrötlerei« in einer Gesellschaft, da die Nächsten- der Selbstliebe moralisch vorauszueilen droht.
»Anders als in den verschiedenen Haltetherapien, in denen die Bedeutung des körperlichen Haltevorgangs in der Begleitung des weinenden Kindes sehr betont wird, verstehen wir
in der EEH die Selbstanbindung als das Zentrum des haltgebenden Geschehens. Indem der Säugling auf dem Höhepunkt seines Weinens die Erfahrung macht, dass die erwachsene Bindungsperson „bei
sich“ bleibt, indem es weiter den ruhigen Rhythmus der Atmung an seinem Körper spürt, die modulierte und vertraute Stimme der Mutter wahrnimmt und die zärtlichen und beruhigenden Streichungen
auf seinem Körper erfährt, wird die Mutter zu einem Anker und Orientierungspunkt inmitten eines affektiven Hurrikans, welcher den Säugling überrollt. Nicht das Ausweinen und stundenlange Halten ist
das Ziel dieses Vorgehens. Stattdessen soll die Mutter so angeleitet werden, dass sie in die Lage versetzt wird, eine körperliche Erfahrung innerer Sicherheit an das Kind weiterzugeben.« (S. 191)
Gewissenhaft geht der Autor auf mögliche Gefahren ein, welche beim Weinen für die Beteiligten entstehen können, zeigt Alternativen auf, Auswege, Hilfen, um diesen vorzubeugen
oder im akuten Fall zu begegnen. Niemals wird dabei Zwang ausgeübt oder eine therapeutische Macht missbraucht, sensibel bleibt der Helfer mit sich selbst und den Hilfesuchenden in Kontakt, horcht
einfühlsam und wach auf ihre Signale, kommuniziert mit dem Du, während das Ich seinen Halt im Selbst (rückver-) sichert.
Die Emotionelle Erste Hilfe ist weniger eine technisch anwendbare und übertragbare Methode als vielmehr eine Wegweisung zu den Grundlagen der zwischenmenschlichen Kommunikation
durch Aufrechterhaltung und Wertschätzung fließender Energien in gesunden Bahnen: den Kreislauf des Lebens im Kleinen wie im Großen.
Das Buch von Thomas Harms richtet sich in erster Linie an helfende Personen und weniger direkt an betroffene Eltern auf der Suche nach Erster Hilfe in akuten Notsituationen. Diesen sei gewünscht, dass sie in ihrer Umgebung aufgeschlossene Helfer finden, die sich den Inhalten dieses reichhaltigen Werkes annehmen, ungeachtet dem vom Autor so formulierten großen »Schwachpunkt«, welcher »momentan in dem Mangel eines empirischen Nachweises für die Wirksamkeit des Ansatzes« liegen würde (S. 241).
»Aus diesem Grunde wünsche ich mir persönlich für die Zukunft, dass genau diese wissenschaftliche Überprüfung der Methode stattfindet und im Kontext der akademischen
Forschung möglich wird.« (S. 241)
Ich bin keine generelle Gegnerin akademischer Forschung und weiß die energie- und zeitaufwändigen Arbeiten professioneller Wissenschaftler zu schätzen, beobachte allerdings mit
großem Unbehagen den Hang wissenschaftsgläubiger Menschen, das nahe Liegende zugunsten naiver Autoritätshörigkeit aus den eigenen Sinnen zu verlieren, welches uns allen gegeben ist: Erforscher unseres
Selbst zu sein, indem wir lernen, die Gesetze der Schöpfung im Kleinen aufzuspüren und uns an diesen Wundern täglich zu erfreuen. Die unbestechliche Empfindung des Glücks sollte dabei Beweis genug sein
und bedarf keiner institutionellen Absicherungen und ihrer notariellen Beglaubigung.
Jutta Riedel-Henck, 17. Juni 2008
Weiterführende Links
ZePP: Zentrum für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie
EEH-Netzwerk-Homepages für Deutschland, Österreich und Schweiz mit Fach-BeraterInnen-Listen
Ulrich Leutner Verlag: Kurz-Info zum Buch
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© 2008 by Jutta Riedel-Henck
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