Die vorliegende Dissertation der Diplom-Psychologin Angelika Gregor ist Ergebnis einer Felduntersuchung, an der 40 Familien aus dem Raum Darmstadt
teilnahmen, welche sich in Folge eines schriftlichen Aufrufes in Presse, Arzt- und Hebammenpraxen sowie diversen familienorientierten Institutionen und sozialen Einrichtungen durch die Autorin
meldeten, ergänzt von persönlichen Aufklärungsgesprächen und Vorträgen über den Hintergrund der Studie.
Zielgruppe waren Frauen mit ihren Partnern, die sich im letzten Drittel der Schwangerschaft befanden. Die Problematik des »exzessiven Schreiens«
wurde ausdrücklich nicht thematisiert, stattdessen der »Übergang zur Elternschaft, Entwicklung der familiären Kommunikation und frühe Entwicklung des Kindes«, um eine Voreingenommenheit zu vermeiden und
einen möglichst breiten Personenkreis anzusprechen.
Die Untersuchung begann im letzten Schwangerschaftsdrittel mit einem Erst-Interview, gefolgt von der Führung eines in Tabellenform entworfenen
Tagebuches durch die Mutter zur Beobachtung des gesamten Entwicklungsverlaufes der Familie während des ersten Untersuchungszeitraumes. Für eine umfangreiche Auswertung der Qualität der
Mutter-Kind-Interaktion wurden zudem Videoaufzeichnungen herangezogen. Diese wie auch weitere Gespräche unter Verwendung speziell entworfener Fragebögen fanden jeweils in der Wohnung der teilnehmenden
Familien statt. Zu einer Nachbefragung kam es im dritten Lebensjahr der Kinder, an der jedoch nur noch zwei Drittel der Familien teilnehmen konnten.
Der Aufwand der hier dokumentierten Langzeitstudie wirkt enorm, eine Fülle von Material bereits durchgeführter Studien wird diesem Projekt zu
Grunde gelegt, die für einen nicht involvierten Leser im Detail schwer nachzuvollziehen sind. Viele Fragen ergeben sich in Bezug zur Praxis der einzelnen Gespräche, Videoaufnahmen und deren Auswertungen,
begleitet von dem Wunsch, einzelne, wissenschaftlich gebräuchliche Definitionen in allgemeinverständliche Sprache zu übersetzen, um sich in die Vorgehensweise der Auswertungsarbeit nicht nur
hineindenken, sondern zugleich auch -fühlen zu können, geht es doch nicht nur um sachliche, objektiv nachvollzieh- und damit sichtbare Phänomene, sondern um die Zusammenwirkung seelisch motivierter und
beeinflusster Kommunikationsweisen zwischen Mutter und Kind sowie der anwesenden beobachtenden Interviewerin.
So sehr alle beteiligten Eltern mit den selben Fragen konfrontiert, ihre Verhaltensweisen mit Hilfe der selben Formeln ausgewertet wurden, um sie
auf einem gemeinsamen Nenner miteinander zu vergleichen und auch zu teilweise signifikanten Ergebnissen zu gelangen, bleiben die Schlussfolgerungen dennoch fragwürdig, sobald es um die Ursachenforschung
für exzessives Schreien geht, welches sich nicht aus den wechselseitigen Verstrickungen kindlicher und elterlicher Unruhe und deren (Re-) Aktionen alleine ergeben.
Einer solchen Ursachenforschung scheint die Autorin wie im Titel angekündigt jedoch keinen Schwerpunkt verleihen zu wollen, geht es vielmehr um die
Wechselbeziehungen von biografischen Hintergründen und deren Auswirkungen auf das Eltern-Kind-Verhältnis sowie die Partnerschaft von Mutter und Vater auf Grund einer besonderen Herausforderung durch die
Regulationsstörung des geborenen Kindes.
Zwei die schriftliche Arbeit abschließende Einzelfallstudien wirken somit am geeignetsten, die Vielfalt der Möglichkeiten an Verstrickungen
aufzuzeigen, welche dazu führen, dass ein ohnehin reizanfälliges Kind durch sein extremes Schreiverhalten die Defizite seiner Eltern ans Licht befördert, während im vorgeführten Vergleichsfall ein wenig
schreiendes Baby diese durch körperliche Krankheitssymptome zum Ausdruck bringt.
Einzelergebnisse der Untersuchung lassen sich zwar aus der Arbeit herausziehen, werden jedoch isoliert betrachtet zugleich verfälscht und verführen
zu voreiligen und die Ganzheit der Studie missachtenden Schlussfolgerungen. So besagt der prozentuale Anteil so genannter Schreibabys als Zahl wenig, werden in dieser Gruppe die mütterlichen wie
väterlichen Einschätzungen des Schreiverhaltens einbezogen, welche nicht frei von subjektiver Färbung sind. Auch die Beobachtung, dass Mütter von Schreibabys weniger in »Babysprache« kommunizieren, ließe
sich in vielfältiger Hinsicht deuten. So führt z. B. die übermäßige Anspannung der schreigeplagten Eltern zu entsprechend seelischem Verschluss, da die Mutter mehr als sonst »ihren Mann« stehen muss und
auch beim nicht minder überforderten Partner kaum Rückhalt findet, um sich ihrer naturgemäß kindlich seelischen Spielader hinzugeben. Hier könnte auch die Beobachtungssituation mit und ohne
Videoaufzeichnung einen zusätzlichen Druck auf die Eltern ausgeübt haben, die sich nun verstärkt um Kontrolle ihres zerrütteten und verunsicherten Seelenlebens bemühen, um »vor laufender Kamera« unter
den Augen einer außen stehenden Person »vom Fach« nicht vollkommen die Fassung zu verlieren. Die von Schuldgefühlen und Versagensängsten ohnehin gebeutelten Mütter reißen sich häufig in jeder Hinsicht
zusammen und sind geradezu genötigt, sich auf diesem Wege künstlichen Halt zu schaffen.
Als ehemals betroffene Mutter stellte ich beim Lesen diverse Vergleiche zu meinem eigenen Verhalten und Empfinden sowie biografischen
Voraussetzungen an, um in fast jeder Hinsicht von den vorgestellten Auffälligkeiten abzuweichen bzw. diese aus meiner Sicht in Frage zu stellen gemäß der bewussten Verhaltenssteuerung unter den Augen
Außenstehender. Zugleich hätte ich in jedem Bereich eine mir verwandte bzw. bekannte Gemeinsamkeit aufzeigen können, deren Ausprägung jedoch von der persönlichen Einschätzung und Sichtweise abhängt und
wiederum wenig »objektiven Aussagecharakter« enthält.
So scheint mir der Arbeitsaufwand dieser Studie im Hinblick auf die recht vielseitig zu interpretierenden Ergebnisse unverhältnismäßig groß.
Für den Umgang mit exzessiv schreienden Babys und ihren Familien in der Beratungsarbeit halte ich eine Fokussierung auf die Individualität
einzelner Fälle für weitaus effektiver, zumal die möglichen Auswertungen verallgemeinernder Ergebnisse Gefahr laufen, Eltern und ihre Kinder in die ohnehin schon als schmerzhaft empfundene Isolation
durch besondere Auffälligkeit (allein schon durch die Lautstärke) zu treiben und sie auf diesem Wege (auch unbewusst) zu »pathologisieren«. So berichten mir betroffene Mütter meist an erster Stelle von
ihren tiefen Schuldgefühlen, die auf eben solchen, wenn auch mehr alltäglichen Vergleichen mit anderen Familien und ihren »ruhigeren« Kindern beruhen. Statt sich in zermürbende Gedanken-Analysen zu
verrennen, bedarf es vielmehr des vertrauensvollen Annehmens gegenwärtiger Herausforderungen, um sich den akuten Bedürfnissen angemessen zu verhalten und aus den daraus resultierenden Erfolgserlebnissen
Kraft zu schöpfen und den Fluss der Liebe zwischen Mutter, Vater und Kind ins Strömen zu bringen. Der Mensch verfügt gerade in Stress geladenen Phasen nicht umsonst über die Fähigkeit zur Verdrängung
schmerzhafter Erfahrungen, um diesen nicht zum Opfer zu fallen, sich stattdessen dem neuen Leben im Jetzt zu widmen. So ließe sich die vorübergehend ablehnende Haltung in Form von verstärkt beobachteten
Blickkontakt-Vermeidungen zwischen Mutter und (übermäßig schreiendem) Kind auch positiv deuten als Ausdruck der Fähigkeit, das eigene Abgrenzungsbedürfnis anzumelden, ungeachtet der mütterlichen,
manchmal auch eigennützigen Wünsche nach symbiotischer Verschmelzung mit dem Kind. Indem das Kind den Freiraum spürt, sein Bedürfnis nach Eigenart und Abgrenzung rücksichtslos und lautstark durchsetzen
zu dürfen, ließe sich durchaus ein unbewusster Vertrauensbeweis sehen und somit eine begrüßenswerte offene Kommunikationsbereitschaft zwischen Kind und Mutter.
Diese und andere Deutungen können nahezu unendlich ausgebaut werden. Mir persönlich liegt die konstruktive und die positiven Seiten betonende
Interpretation der ohnehin spannungsreichen Konfliktsituationen besonders am Herzen, um die nach wie vor extrem herrschenden Schwellenängste und Schuldgefühle der Betroffenen aufzulösen, die der
intuitiven Entfaltung elterlicher Kompetenzen nicht selten am meisten im Wege stehen.
Als Grundlage fortführender Diskussionen um die Gesamtproblematik bietet die Dissertation von Angelika Gregor ein reichhaltiges Angebot an
Gedankengängen und damit verbundenem bibliographischen Material für psychologisch orientierte Wissenschaftler und Forscher. Betroffene und in der Beratungsarbeit Tätige könnten mit der Literatur dieses
Werkes mangels erforderlichen Hintergrundwissens schlichtweg überfordert sein.
Jutta Riedel-Henck Deinstedt, 17. Juni 2003
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