Kolumne
»Das ist falsch!«
Drei Wörter zu einem Satz gereiht. In der Schule reicht ein f in roter Farbe. An den
Rand gekritzelt. Falsch und richtig. Nein und Ja. Wenn es nur so einfach wäre.
Vor Jahren noch waren sie nicht wegzudenken aus den Katalogen der
biodynamischen Naturwarenläden. Ein Lammfell gehörte in Tragekorb, Wiege oder Kinderwagen, kuschelig weich und warm sollte das Kleine gebettet sein. Falsch!
Erregt die Mutter am Telefon auf der Suche nach Hilfe für ihr schreiendes Baby. Ausgestattet mit einer Broschüre über den plötzlichen Kindstod und seine
möglichen Auslöser weiß sie um die tödliche Gefahr dieser einst so beliebten Schlafunterlage. Noch dazu in Bauchlage! Das Baby könnte ersticken!
Es stattdessen direkt auf den Bauch der Mutter legen? Falsch! Infektionsgefahr!
Besser gleich in sein eigenes Bettchen, damit es sich gar nicht erst an die Nähe von Mama und Papa gewöhnt! Die könnten es im Schlaf erdrücken!
Ich bin ratlos. Meine Ratschläge sind alle falsch. Und ich habe alles falsch gemacht.
Baby in Bauchlage auf Lammfell im Familienbett, noch dazu mit Schnuller im Mund. Schnuller? Richtig! Richtig? Nein, falsch! Achtung, Zahnspange! Ach was, richtig! Schutz vor plötzlichem Kindstod!
So viel Angst liegt in der Luft. Angst, etwas falsch zu machen. Angst vor Krankheit,
Behinderung und Tod. Die Zeit der Schwangerschaft durchwachsen von Ahnungen, Gedanken, Kalkulationen um die möglichen Risiken, dem Ungeborenen seelischen
oder körperlichen Schaden zuzufügen. Kontrolle hoch drei, hoch vier, hoch fünf. Ist das Kind geboren, rauchen die Köpfe beim Lesen sich widersprechender
Ratgeberliteratur, Artikel in Zeitschriften oder, noch unübersichtlicher: im Internet, dem großen weiten unbegrenzten Wegweiser in die Irre des gedanklichen Wahnsinns.
Massenweise stürzen sie auf uns ein, die Informationen. Falsch, falsch, alles ist
falsch – oder das meiste, manchmal auch weniger, aber das, was falsch ist oder falsch sein kann, genügt, um sich selbst als Fehler zu empfinden, wenn der Schnuller
im Mund des Babys steckt und die Flasche mit Fertigmilch in der Hand des »stillenden« Papas wartet, um die Mutter zu ersetzen. Rabenmutter! Wo bleiben
deine natürlichen Instinkte und Gaben? Bist du nicht geboren, um deinem Kind ergeben dich zu opfern und all deine Wünsche nach Selbstverwirklichung in den
Himmel zu schießen? Schäm dich, auch nur einen Moment daran zu denken, aus dem Haus zu flüchten auf der Suche nach Erfolg für dich und deinen Ehrgeiz, etwas zu leisten fern von Kinderzimmer und Küche!
Zerrissen das Selbstgefühl, geschlagen von Gedanken jener, die alles besser wissen
und können oder zumindest davon reden und schreiben und dir jeden Moment des Lebens und Empfindens aus der Seele zu reißen drohen, so wenig Platz ist dir
geblieben: zu genießen, zu lassen, zu träumen und lieben.
Ja, die Liebe. Wo ist sie hin? Zwischen Buchdeckel gepresst, in Fotoalben geklebt,
hängt sie an der Decke über der Wiege oder fließt sie aus der Mutterbrust?
Die Liebesdiebe lauern an allen Ecken, reißen den Kleinen ihre Schnuller aus dem
Mund, während sie genüsslich saugen, ohrfeigen Mütter, deren Babys weinen, mit spitzen Bemerkungen, bewerfen verunsicherte Eltern mit Schuldzuweisungen, ohne
gefragt zu haben, ob sie helfen könnten und vor allem: wie?
Kinder – ich »habe« nur eins –, und höre mich sagen zu einer kinderlosen Frau, die
gerne Mutter wäre: »Das erste, was du lernen musst, ist, alles falsch zu machen!«
Ein Spruch, so ermutigend wie das Elterngeld?
Aus den Trümmern des Perfektionismus ragt ein kleines Händchen und greift nach
meinem Finger. Dem Händchen ist egal, was sie alle denken, die Leute, von mir und meinen Fehlern. Kein Buch der Welt vermochte das zu schenken, was ich aus ihnen lernte.
Jutta Riedel-Henck, Januar 2007
Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein. (Marie v. Ebner-Eschenbach)
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