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aus: »Vorsicht Ratschläger« von Jutta Riedel-Henck

 

Unsere alltäglichen Experten ...

Wer hätte das gedacht. Unmöglich, diese kreischende Mutter an der Ladenkasse im Supermarkt. Drei kleine Kinder, und jedes will zugleich was anderes. Das Mädchen kommt mit einer Packung Kaugummis. Der Junge lehnt sich aus dem Einkaufswagen, um eine Flasche aus dem Regal zu greifen. Ein dritter Wirbelwind turnt unter dem Grabbeltisch für Sonderangebote herum.

Natürlich weiß ich alles besser: denkenderweise. Soll sie doch die Kinder zu Hause lassen, das war doch vorauszusehen. Und das Mädchen, ist es nicht freundlich und fragt einfach, ob es die Kaugummis haben darf? Aber nein, die Mutter hört gar nicht erst hin, schreit, kreischt in höchsten Tönen. Völlig überfordert, ist meine schnelle Diagnose.

Zufrieden verlasse ich das Geschäft. Wieder einmal ein Opfer gefunden, um meine klugen Ratschläge zu formulieren, ohne sie auszusprechen. Ach, das Leben kann doch so schön sein ... Ich genieße die Ruhe im Auto, drehe das Radio an und fahre genüsslich von dannen.

Wer kennt sie nicht, die alltäglichen Kämpfe an der Kasse zwischen Müttern und ihren quengelnden Kindern? „Nein, davon haben wir noch genug zu Hause!“ – „Nein, du weißt, warum du keinen Kinderriegel bekommst!“ – „Nein, du hattest schon ...“ ... und alles in kontrolliert, bewusst freundlich ausgedrücktem Tonfall ... bis das Kleine lauthals schreit, sich windet, den Einkaufswagen zur Seite drängelt, um gleich fünf Lutscher aus der runden Plastikdose zu ziehen und kraftvoll an sich zu reißen. „Nein, hab ich gesagt!“ Na, schon besser. Das klingt glaubhaft.

Ein Gerangel zwischen Mutter und Kind. Die Mutter, die Stärkere gewinnt, reißt ihrem Kind die Lutscher aus der Hand und schmeißt sie wütend zurück in die Plastiktonne. Wenn das nicht weitere kluge Besserwisser zu hohen Ratschlägergedanken animiert ... „Armes Kind, hat doch auch seine Rechte! Soll die Mutter doch ordentlich erklären, statt ihre Macht zu missbrauchen!“

Ja, unsere Welt ist voller Alleskönner. Bis zu dem einen Tag, da sie mit ihrem Kind an der Supermarktkasse stehen und erklären und erklären, sanftmütig, versteht sich, für alle Umstehenden verständlich artikuliert, ... aber das Kind greift trotzdem. „Trotzalter“ heißt es dann für das Publikum, „kann man nichts machen“, und der kluge studierte Pädagoge ignoriert das Schreien seines Kindes cool und gelassen, während er all seine Sinne beisammenhält, um gefühllos durch die mit Süßigkeiten verminte Kassenzone zu schreiten und grinsend am Ausgang zu warten. Irgendwann wird es schon kommen, das Kleine. Ja, das Kleine kommt irgendwann: völlig eingeschüchtert und verängstigt, wie ein begossener Pudel dackelt es seinem aufgeklärten Vormund hinterher.

Die Macht der Überlegenheit hat gesiegt.

Und was lese ich in den fortschrittlichen Artikeln gegenwärtiger Elternzeitschriften zum Thema „natürliche Erziehung“? Gelassen bleiben sollen die Eltern, immer schön gelassen bleiben und dem Kind auf diese Weise zeigen, dass es mit seinen Spielchen nichts ausrichten kann.

Der aufgeklärte, überlegene, gelassene Pädagoge genießt nach wie vor mehr Ansehen in der Öffentlichkeit als die plump und unreflektiert kreischende Mutter. Oberstes Gebot: sich selbst im Griff haben und zugleich Wärme ausstrahlen, Verständnis zeigen, auf alles eine Antwort wissen, Achtung des Kindes in seinen Grundrechten.

Da jeder einmal Kind war, meint auch jeder, sich im Beruf Kind auszukennen. Jeder weiß, was ein Kind wirklich braucht. Und meist braucht es besonders das, was der erwachsene Kenner als Kind einst vermissen musste. Aus seinem persönlichen Missstand wird ein allgemeines Gebot. In seiner Umgebung lauert er wie ein Raubvogel in der Luft auf eine Maus, die es wagt, seinem Gesetz zu widersprechen. Im Sturzflug ergreift er die Gelegenheit, gezielt beiläufig einen wissenden Blick auf das am Boden strampelnde Kind und seine am Ärmel zerrende Mutter zu werfen – schweigend, versteht sich, weiß er doch im Geiste um die Niedrigkeit des Einmischens in fremde Angelegenheiten.

Nein, einmischen tut er sich nicht, das ist klar. Das ist unter seinem Niveau. Er will gefragt sein, der Fachpädagoge und Alleswisser: Kommen Sie morgen um zehn in meine Praxis, ich habe gerade noch einen Termin frei, ganz zufällig.

Also nichts wie hin zur Erziehungsberatungsstelle!

„Sie müssen zuhören lernen, entspannen Sie sich, versetzen Sie sich doch einmal in die Lage Ihres Kindes! Wie muss es sich gedemütigt fühlen, wenn es vor allen Augen von seiner Mutter bestohlen wird! Die Lutscher betrachtet es selbstverständlich als sein Eigentum, es ist, als ob Sie ihm etwas von seiner Seele amputieren. Denken Sie einmal darüber nach. Wir sehen uns dann in der nächsten Woche wieder.“

Ja, wie gut, dass es so viele Pädagogen, Psychologen und Kinderexperten gibt, die den inkompetenten und verunsicherten Eltern den richtigen Weg weisen. Endlich bekommen die einst vernachlässigten und gedemütigten Kinder die ihnen gebührende Aufmerksamkeit: im Erwachsenenalter: durch berufliche Kompetenz in Sachen Erziehung.

 

JRHNachherJRHvorher

 

Vorher – Nachher

 

 

 

 

Ist ja nicht mehr zum Aushalten dieser mütterliche Schmuddellook ohne Schick und Esprit! Immer nur Sweatshirt Größe XXL, am Knie gebleichte Jeans vom Rumrutschen auf dem Fußboden und ausgelatschte Fußbettsandalen für Neunundzwanzigneunzig oder Vierzehnachtzig vom Billig-Discounter. Und dann diese Frisur! Nein, von Frisur kann schon gar nicht mehr die Rede sein! Wollen Sie so etwa an die Öffentlichkeit? Mal nett ausgehen? In ein Restaurant, ein Konzert, eine interessante Dichterlesung?

„Also wie du heute rumläufst, so ist meine Freundin schon vor Jahren nicht mehr – also mein Geschmack ist das nicht.“ Das bekam ich schon fern meines Mutterdaseins zu hören, als die Zeit des neuen Schicks die längst antiquierte Latzhosen- und wallende Indienkleidphase zu übertrumpfen suchte: Seht her, ich wage wieder die Betonung meiner weiblichen Attribute und Kurven und gebe etwas auf ein gepflegtes Äußeres!

„Ich habe dich sofort wiedererkannt. Du hast dich überhaupt nicht verändert!“ Ja, so bin ich. Seit 20 Jahren den gleichen Haarschnitt, die gleichen Klamotten im Stil Bequem, weder Indienformat noch Marke Ausgeflippt. Ein ganz normaler Mensch. Oder etwa nicht? Ich werde nachdenklich. In der Elternzeitschrift betrachte ich Fotos von modernisierten Müttern: vorher – nachher. Vorher gefielen sie mir besser , ungeschminkt und echt, sensibler Gesichtsausdruck, locker und unbeschwert wallende Haare ohne Kinkerlitzchen, freundlich und sympathisch. Aber dann ... hier ein Löckchen, da eine blondierte Strähne, ein wenig toupiert, das hübsche Kostüm (wehe, Söhnchen, du kleckerst drauf!), attraktiv, attraktiv! Na ja, wenn’s denn sein muss: jedem nach seinem Geschmack. Kann mir ja im Grunde egal sein.

Ist es aber nicht! Denn ich befürchte, dass die zufriedenen Muttis in Schlabberpullover und Krabbelhose nach dem Lesen solcher Artikel in die nächste Boutique zischen, eitel in Schaufensterscheiben ihr Spiegelbild mustern und eine launentrübende Abmagerungskur ins Auge fassen: So kann es schließlich nicht weitergehen! Jede Mutter will auch wieder Frau sein!

Hat sie das etwa schon vergessen? Dass nur Frauen Mütter werden können? Dann wird es tatsächlich höchste Zeit, einmal in den Spiegel zu sehen: Hallo, da bin ich! Selbstfindung mit Spareffekt ... oder was kostet heute ein Friseurbesuch mit Boutiquenbummel auf der Suche nach einem schicken Fummel, der für den Rest des Jahres im Kleiderschrank geparkt wird?

 

 

klatschtante

Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!

„Mamaaa? Warum brummt der Motor so laut?“ Oh je. Ich habe vergessen, den Automechaniker-Kurs an der VHS zu besuchen. Schließlich hat meine Tochter ein Recht auf sachliche Antworten: Wer nicht fragt, bleibt dumm!

Leider bekommt sie meist zu hören: Weiß ich nicht. Und das, obwohl ich studiert habe und auf dem Gymnasium war. Aber jeder weiß ja heute, dass meine Generation, also jene der 60er Jahre, in Rechtschreibung und Mathematik vernachlässigt wurde, während die Zweitklässler bereits erste Englischlektionen erhielten und die neu gestalteten Oberstufenschüler im Gemeinschaftskundeunterricht über brisante politische Themen der Gegenwart diskutierten. Unsere fortschrittlichen Reformlehrer hatten eben Wichtigeres zu tun, als banale funktionelle Zusammenhänge zu erklären, und streng sein wollten, d. h. konnten sie schon lange nicht mehr.

Also haben wir nichts Handfestes gelernt.

Zum Glück gibt es heute das Kinderfernsehen, die Nachhilfestunde für intellektuell verbildete Elfenbeinturmbewohner. Hier erfahren wir, warum der Käse Löcher hat, alles rund um die Nudel- oder Salzstangenherstellung, dass Bienen mit Zucker versorgt werden, damit der Imker sich ihres leckeren Honigs bedienen kann, wer Augustus war und wie eine Flasche aus Zucker geblasen wird, um sie auf dem Schädel unseres Vorgängers zu zertrümmern – keine Angst, das tut nicht weh, ist ja nur ein Trick für die Dreharbeiten bei Film und Fernsehen.

Ein tolles Medium, kann ich nur sagen. Innerhalb kürzester Zeit bekommen die Kinder präsentiert, wofür ihre Eltern ein ganzes Leben lang bräuchten, um es einigermaßen kompakt zu erfassen. Immer mehr, immer schneller, immer besser: Alle Achtung, liebe Fernsehleute, dafür habt ihr einen Preis verdient. Während wir dummen Elterchen nur demütig in der Tür stehen und heimlich in die Flimmerkiste blinzeln, um zumindest ein wenig mitreden zu können, wenn unsere Kinder von Luftdichte, Vakuum und Schwerkraft erzählen, bevor sie zum ersten Mal das Wort Physikunterricht gehört haben. Lauter schlaue Füchse, unsere Kleinen, dank der tollen Fernsehpädagogik. Und glauben Sie nicht, dass der Wissendurst unserer jungen Flimmerkastenschüler damit gelöscht wäre! Nein, die Fragen fliegen wie Löwenzahnsamen in der Gegend herum, einfache Antworten werden lange nicht mehr geduldet, der Nachwuchs fordert weitschweifende Erklärungen, und das möglichst anschaulich, gut verdaulich und unterhaltsam dargeboten.

Faktenlernen, ein Thema meiner Magister-Prüfung im Fach Pädagogik. Da es mir mehr auf die Zusammenhänge ankam als auf die Wiedergabe angelesener Fakten, erhielt ich nicht das best mögliche Werturteil in Form einer Zensur, d. h. Nummer. Faktenlernen als solches stand im Mittelpunkt heiß debattierter Kritik, um es mittels Fakten zu fundieren. Man nennt das auch Wissenschaft, Erziehungswissenschaft in diesem Fall.

Was wollte ich eigentlich mit alledem sagen? Ich suche den Faden. Können Sie mir helfen? Ja, da sehen Sie mal wieder, was für eine unsachliche Plaudertasche ich bin, trotz Studium und Abitur, nicht ernst zu nehmen – was mit Nachsicht zu dulden sei: Ich bin ja auch nur eine dumme Mutter.

 

aus: »Vorsicht Ratschläger« von Jutta Riedel-Henck

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