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Tagebuch

 

Freitag, 9. Juli 1993

Ein rosafarbenes Tagebuch – für das Mädchen-Baby, habe ich nicht begonnen, als Jana am 12. Mai geboren wurde; angepriesen mit feinen Bildchen von glücklichen Kindern ...

Meine Mutter gab mir vor mehreren Jahren Blätter eines Ringbuches, und ich konnte nachschauen und lesen, wie ich ernährt wurde und zugenommen hatte, ob ich lachte oder Laute bildete und welche Wehwehchen meine Mutter durch mich plagten. Aber alles in allem schien ich wenig geschrieen zu haben, sei »immer« (?) freundlich gewesen – bis auf ... vor Trotz habe ich mich ganz steif gemacht, und ein Arzt riet, mich durchzuhauen – was meine Mutter mit so einem »niedlichen Frätzchen« nicht gekonnt habe. Lange dauerten diese Niederschriften nicht.

Ich sitze jetzt hier im Bett am späten Nachmittag und kann vor lauter Überreiztheit nicht schlafen, obwohl ich mich wohler fühlen würde, wenn ich könnte, denn wann wird die nächste Gelegenheit sein? Ein unglückliche Mutter ... trotz Sonnenschein.

So sehr ich mich bemühe zu glauben, dass die Zeit mit Janas Quälereien durch die »Koliken« irgendwann vorbei sein müsse, es klappt nicht so recht und ist, wenn überhaupt, ein schwacher Trost.

Wie habe ich mir gewünscht, Janas erste Lebenszeit auf dieser Welt hell, froh und ausgeglichen zu gestalten. Im Frühjahr brachten wir den Garten in Schwung, ich säte Gemüse und Kräuter, und im April gab es das entsprechend warme Wetter dazu. Ich freute mich so sehr, als Janas Geburt sich endlich ankündigte, nachdem wir schon eine Woche immer ungeduldiger gewartet hatten. Und dann die Anstrengungen, bis sie in meinem Arm lag und so hell und wach in meine Augen schaute, frisch und klar wie ein Lichtblick in meinem Leben, das so viel Dunkelheit in sich birgt.

Das Krankenhaus verließ ich mit Überschwang, und zu Hause angekommen, konnte ich es noch gar nicht fassen, dieses Glück, ein neues Leben um mich zu spüren. Im Garten hatte sich in wenigen Tagen so viel verändert, alles war prächtig gewachsen, und Herbert hatte die Pflanzen inzwischen mit Wasser versorgt. Alles war völlig anders als je zuvor. Im Schlafzimmer stellten wir die von meinem Vater gebaute Wiege in die Mitte, ich setzte mich auf ihren Sitz und stillte Jana schaukelnd, Herbert kochte Tee und holte den runden kleinen Tisch von seinen Großeltern aus der Bibliothek, wir saßen da und genossen unser irdisches Dasein.

Ich glaubte, nicht schlafen zu können, immer ein Ohr zu Jana in der Wiege neben unserem Bett gerichtet, sie sollte nicht lange schreien müssen, am besten gar nicht, wenn sie Hunger und Durst hatte. Von Anfang an machte es mich wahnsinnig traurig, sie schreien zu hören.

[...]

Die Probleme begannen schnell. Es war schwüles Wetter, und Jana wollte plötzlich nicht mehr an der Brust trinken. Ich war ganz verzweifelt und fühlte mich abgelehnt. Es hatte doch so schön geklappt mit dem Stillen, die Milch vermehrte sich problemlos, und Jana zeigte ihren Genuss durch leichte Bewegungen der Füße beim Trinken, die Stirn in Falten und Augen offen, mit liebendem Blick und bald schläfrig geschlossen.

Herbert telefonierte mit der Kinderzimmerstation des Krankenhauses, wo die üblichen Fragen gestellt wurden, was mich noch unsicherer machte und mir wieder das Gefühl des Ausgeliefertseins an diese Besserwisserinnen gab, die jedes Gramm Milch notiert haben wollten und immer auf das Wiegen verwiesen, nur keine Intuition zulassend.

[...]

Wir glaubten, die Hitze sei Schuld gewesen, dass Jana so großen Durst auf Tee hatte. Aber dann, am nächsten Tag, nachdem mein Vater von seinem Besuch bei uns wieder nach Hause gefahren war, wollte sie einfach nicht schlafen. Sie hielt uns vier Stunden lang in Atem, bis wir sie endlich in den neuen Kinderwagen, ein Geschenk meines Vaters, legen konnten. Die nächsten Tage waren anstrengend. Ich meinte, dass dies normal wäre bei so einem jungen Säugling, und stillte sie, so oft sie Hunger hatte, war immer bei ihr und nutzte ihre Schlafpausen, um in Küche und Garten einiges aufzuräumen und mich wieder zu Hause einzuleben.

Auch dem Kaffee hatten wir dann die Schuld gegeben, dass Jana schwer zum Einschlafen zu bringen war, also verzichtete ich darauf. Aber es wurde nur schlimmer.

Jana schrie immer mehr und längere Zeit, unsere Nerven hatten kaum Gelegenheit zu entspannen. Ich war ganz durcheinander und fühlte mich miserabel und schlecht, wie eine Rabenmutter.

Wieder Telefonieren: dieses Mal mit der Hebamme. Sie wollte am nächsten Tag kommen und möglicherweise mit uns zum Arzt fahren, um prüfen zu lassen, ob Jana an Blähungen leide.

Am nächsten Tag hatte sich alles beruhigt. Jana schlief lange und schien entspannt, wir glaubten, sie habe einfach einen schlechten Tag gehabt, und die Angst, sie könne Blähungen oder gar starke Koliken haben, wich dahin.

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Samstag, 10. Juli 1993

Eine Schreibpause mit viel Geschrei – gestern gab es wieder eine schwere Krise, Jana schlief erst um Mitternacht ein, nachdem ich lange mit ihr herumgelaufen war, lange Töne summend, die sie zu beruhigen schienen. Auch eines der neuen Kümmelzäpfchen hat Herbert ihr gegeben, danach bekam sie einen warmen feuchten Wickel. Doch alles lindert wenig, wenn überhaupt.

[...]

Zurück zu den Anfängen. Die Hebamme konnte nicht kommen, und sie hatte eine Kollegin angesprochen, die sich bei uns meldete. Ich sprach von meinen Ängsten, es könne sich um Koliken handeln. Sie meinte, das wäre wohl nicht der Fall und jedes Kind hätte mal einen schlechten Tag. Ihre Kinder hätten zudem keine Blähungen gehabt und immer Honig in Wasser gelöst getrunken. Also probierte ich die Honiglösung in Fencheltee ... verärgert von ihrer Überheblichkeit mit ihren blähungsfreien Kindern anzugeben!

Die Ruhe währte nicht lange. Es kamen neue Anfälle, und wir waren total durcheinander, genervt und gestresst, unglücklich bis über alle Ohren, gerieten schnell aus der Fassung, ließen unsere Wut stampfend am Holzfußboden aus, knallten Türen und schlugen uns die Köpfe ... und was noch alles. Fürchterliche Schuldgefühle plagten uns, Jana durch unsere Fassungslosigkeit alles andere als beruhigen zu können. Sie lernte uns gleich von unserer schlechtesten Seite kennen.

Am Ende der dritten Woche suchten wir in Zeven einen Kinderarzt auf, der uns nicht gefiel. Er war unsensibel und viel zu schnell, machte diverse Tests mit Jana, die furchtbar schrie, und ich nahm sie bei jeder Gelegenheit auf den Arm, so dass sie sich beruhigte. Dann zeigte er mir am PC-Bildschirm, wie groß Jana sei und ihr Wachstum verläuft. Abschließend untersuchte er mit Ultraschall ihre Hüfte und nahm überhaupt keine Notiz von Janas Geschrei. Ich konnte ihm kaum folgen, völlig entsetzt über Janas Klagen. Eine Hüfte sei noch nicht ausgereift, kommentierte er stolz, diesen Fehler entdeckt zu haben. Er wirkte wie ein großes Kind, das mit seinem modernen Spielzeug ein neues Experimentieropfer gefunden hatte, es zu durchleuchten: Jana! Ruck zuck ... und schon war eine »Spreizhose« aus dem Schrank herbeigeholt, die Jana ab nun trage müsse, damit die Beine die richtige Stellung hätten. Gegen die Koliken, auf die er bis dahin kaum eingegangen war, verschrieb er Sab simplex® und ein schmerzstillendes Medikament mit dem Kommentar: »Keine Angst vor Chemie!« Die Muttermilch könne schließlich bei dem Stress zurückgehen, und dann solle man eher mal so ein Zäpfchen gegen Schmerzen geben.

Ich war völlig entsetzt und zerschlagen. Der Arzt meinte, ich solle nicht so traurig gucken ... Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten.

Die Spreizhose sah so behindernd aus. In vier Wochen sollten wir zur Kontrolle kommen. Wenn es bis dahin keine Besserung gäbe, müsste Janas Hüfte geschient werden! Das gab mir fast den Rest. [...]

Die einzig positive Erfahrung war, dass Jana durch die Autofahrt zu beruhigen war und sogar dabei schlafen konnte.

Zu Hause saßen wir betrübt da. Statt Hilfe hatten wir Verunsicherung und weitere Behinderung erhalten, und es gab schon keine Reserven mehr, unsere Kräfte waren fast verbraucht.

Nach einer gewissen Sammlung entschlossen wir uns, einen Facharzt aufzusuchen. Wegen der Koliken wollten wir zu einem Homöopathen.

Wir fuhren zunächst nach Hesedorf zu einem Allgemeinmediziner mit Naturheilverfahren. Dieser war zwar sensibler als der Zevener Kinderarzt, hatte aber selber keine rechte Ahnung, statt ihm sein Assistent, der sich mit Homöopathie beschäftigte und viel weicher wirkte. Er verschrieb Birkenkohle.

Jana war sehr ruhig und schlief viel. Wieder einmal glaubten wir, träte endlich Besserung ein und das Schlimmste sei überstanden. Entspannter schöpften wir neue Hoffnung. Wegen unserer Zweifel über die verordnete Spreizhose vermittelte uns der Arzt einen Termin bei einem Kinderorthopäden bei Bremerhaven. Guten Mutes fuhren wir nach Hause und genossen die Ruhe ... die nicht ewig dauerte.

Jana schrie immer und immer wieder, dann veränderte sich auch ihre Verdauung. Wir befürchteten, sie litte an Verstopfung. Alles steigerte sich, ein Anruf beim Allgemeinmediziner und Gespräch mit seinem Assistenten ließ uns nach Stade zur Kinderklinik fahren – es war Freitag und wir hatten Angst vor dem Wochenende. Ohne Frühstück und in Eile fuhren wir nach Stade, die Sprechzeiten bis 11 Uhr sollten wir noch einhalten, wurden wir etwas gehetzt von der Stimme am Telefon, einer Sprechstundenhilfe des Stader Krankenhauses – die erste Frage nach Krankenkasse und –schein.

Auf dumme Bemerkungen und Umgangsformen gefasst wurden wir ziemlich freundlich von dem Kinderarzt aufgenommen und etwas gestärkt in unserer Hilflosigkeit. Ehrlich sagte er, dass diese Koliken immer mehr Unsicherheit und Fragen aufwerfen, und niemand wisse so recht, wie sie entstünden. Zumindest fanden wir hier psychologisch wirkungsvolle Unterstützung und Anteilnahme.

[...]

Über die Hüftgelenke machte er auch eine Bemerkung, die meiner Ansicht sehr nahe stand. Er fand direkt nichts an Janas Hüfte auszusetzen und sagte, als es früher noch kein Ultraschall gegeben hätte, seien auch nicht mehr hüftgeschädigte Menschen daraus geworden. Dieses Zuviel an Wissen war mir auch unangenehm, vermittelt durch den technikbesessenen Kinderarzt aus Zeven. Nun – sei die Diagnose natürlich einmal gestellt, könne man sie nicht ganz ignorieren, meinte der Stader Kinderarzt – ja, es war zu spät für gesundes Unwissen!

[...]

Bei Muttermilchernährung sei das ganz normal, dass Säuglinge sehr unterschiedliche Häufigkeit des Stuhlgangs haben, mit Verstopfung habe das nichts zu tun.

Mitte Juni fuhren wir dann nach Bremerhaven ins Krankenhaus Langen-Debstedt. Wir mussten nicht lange warten und wurden von dem Chefarzt für Kinderorthopädie sehr höflich empfangen. Er wirkte kompetent und vorsichtig, hörte sich unser Anliegen in Ruhe an und schaute, wie Jana sich bewegte und bewegen ließ und reagierte. Er war sehr zufrieden mit ihr und konnte die von uns mitgebrachten Ultraschallbilder, die Herbert zuvor von dem Zevener Kinderarzt angefordert hatte, nicht so recht zuordnen, welche Hüftseiten sie denn darstellen sollten. Er empfahl prophylaktisch, die Spreizhose weiterhin anzuziehen, sie nach dem Wickeln ruhig eine Weile auszulassen und schlug vor, in einigen Wochen mit Ultraschall zu kontrollieren, ob sich Janas Hüfte altersgemäß weiterentwickelt habe. Unsere Frage nach dem Anlegen von Schienen beantwortete er, indem er die Wahrscheinlichkeit für sehr gering hielt.

Wir waren zufrieden und hatten das Gefühl, von einem erfahrenen und verantwortungsbewussten, freundlichen Mann beraten worden zu sein.

Jana schlief auf dem Rückweg, ich saß, wie immer, neben ihr auf dem hinteren Sitz und genoss den Anblick eines schlafenden Kindes, das nicht schrie mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Vieles kann ich nicht mehr rekonstruieren. Nur, dass es ein ewiges Auf und Ab war und immer noch ist.

Als das Wetter wieder schöner war, gingen wir mit Jana in den Garten und ließen sie im Kinderwagen schlafen. Im Schatten saß einer von uns in ihrer Nähe. Manchmal nahmen wir sie in den Arm und gingen mit ihr im Garten herum, zeigten ihr Pflanzen und die Katzen, erzählten dazu kleine Geschichten und genossen, wenn sie zuhörte und nicht schrie. Einmal stellte ich den Wagen neben die Beete unter einen Apfelbaum und rupfte Unkraut.

All die ruhigen Minuten und Stunden waren reines Lebenselixier, ohne sie hätten wir alle drei schlecht durchhalten können. Aber von Glück mag ich nicht schreiben. Zu viel dunkle Schatten lasten auf uns, am meisten auf Jana, die keine Gelegenheit hat, mit dem Bewusstsein das Erlittene auszugleichen. Vielleicht tut sie es später einmal, wenn ihr das alles hochkommt und sie nicht weiß, warum es ihr schlecht geht – dann mögen diese Aufzeichnungen ihr vielleicht helfen, wenigstens nachträglich zu verarbeiten, was sie heute nicht kann.

Sie ist so ausgeliefert, und ich fühle mich entsetzlich schuldig, so ein leidendes Wesen zur Welt gebracht zu haben, auch für ihre Qualen fühle ich mich verantwortlich. [...]

In mir wühlt meine Vergangenheit – die Abscheu meiner Mutter gegenüber, die Angst unfähig zu sein, für mein Kind zu sorgen, dass es sich geborgen fühlt und nicht so verlassen, wie ich es oft war. Also bei Jana bleiben, ob mit guter oder schlechter Laune, die Beherrschung nicht verlieren, sich zusammenreißen ... wenn es so einfach wäre.

Ich muss es lernen, das ist die Aufgabe, die mir hier gestellt wird, eine verdammt harte Angelegenheit – auf Kosten von Jana.

So glücklich, wie ich sie sehen möchte, ist sie nicht. Und wenn sie jetzt immer häufiger lächelt, freue ich mich zwar, doch plagt mich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, vermischt mit Respekt vor diesem kleinen unschuldigen Wesen, das trotz Qualen die Freude nicht verlernt hat.

Meine Ansprüche sind, verglichen mit denen anderer Eltern, sicher recht groß. Ich kann und will es nicht anders. Entsprechend groß schätze ich meine Fehlerquote ein.

Manchmal, wenn Jana nicht zu beruhigen ist mit den uns möglichen Mitteln, fühle ich mich innig mit ihr verbunden, wenn ich sie fest an meinem Körper halte und herumgehe, auf und ab im Zimmer, in sie hineinhorche und ihr zurede, -singe, -summe, mit aller Kraft in sie einzuwirken suche, sie möge sich entspannen und die Schmerzen mögen sich lösen. Hört sie dann irgendwann auf und schläft sogar ein, empfinde ich großes Glück, das sich vielleicht nicht mit dem einer Mutter vergleichen lässt, deren Kind immer zufrieden und ohne Qualen ist. Oft muss ich weinen – vor Trauer, dass ich meinem Kind nicht ersparen kann, was ich auf andere Weise erfahren habe.

Ich möchte nichts beschönigen. Später soll Jana wissen, dass wir oft Wutanfälle bekamen, weil wir das Geschrei nicht mehr ertragen konnten. Ich schlug oft meinen Schädel gegen die Wand, Herbert schlug sich mit den Fäusten seinen Kopf, wir stampften herum und schrieen selbst vor lauter Verzweiflung. Wie schrecklich war das, weil Jana alles mitbekam und wir wissen, dass sie nicht unterscheiden kann, ob diese Wut gegen sie gerichtet ist oder gegen uns – für sie bleibt es Wut und Gewalt.

Manchmal hätte ich mich am liebsten umgebracht. Ich hielt mich für ein dreckiges Schwein und das größte Arschloch der Welt, weil ich solches Leid geboren und ausgetragen hatte. Aber damit sollte ich lieber leben als sterben.

Pflanzliche Medikamente förderten eher unseren Glauben, sie könnten helfen. Als wir sie wegließen, gab es weiterhin die üblichen Auf und Abs. Auch meine Ernährung und der Verzicht auf Zucker, Zwiebeln, Kohl, Bohnen, Nüsse, seit Tagen jegliche Nahrung mit bzw. aus Milchprodukten, Zitrusfrüchte, Kaffee und schwarzen Tee ... half bzw. beeinflusste die Koliken nicht für uns augenscheinlich oder spürbar.

[...]

Gestern waren wir nun in Lilienthal bei einem anderen Kinderarzt. Er meinte, das Tragen der Spreizhose sei nicht notwendig, da es sich um eine altersgemäße Spätentwicklung handele und schließlich für ein Kind recht unbequem sei. Wir hatten schon seit zwei Wochen von selbst darauf verzichtet, dieses Ding, das oft von uns zu Boden geschmissen wurde aus Abneigung und Hass gegen die Beengung, um Janas Körper zu schnallen.

Der neue Kinderarzt machte nach der Untersuchung von Janas Reflexen und Körperfunktionen, die er viel sanfter ausführte als der Leistungsbesessene, ebenfalls Ultraschallaufnahmen von Janas Hüfte. Die Hüften seien beide gut, nur an der linken Seite gäbe es eine kleine Stelle und wir sollten sie einfach breit wickeln. Die Koliken seien normal in den ersten drei bis dreieinhalb Monaten, und er sprach die uns bereits bekannten ungeklärten Ursachen usw. an. Aber Neues hatten wir schon gar nicht mehr erwartet, was dieses Thema betrifft.

[...]

Morgen fährt Herbert nach Bochum, kommt aber abends schon zurück. Er hat eine Besprechung wegen der »Weltmusiktage«, und wir haben oft überlegt, ob er sie absagen müsse. Aber das Geld wird knapp, und der Verdienst für seine Arbeit wird wohl erst mit der Erfüllung dieses Termins fällig. Einen Überspielungstermin bei Radio Bremen für unsere »Ziegenhainer Klangparade« hatte er schon einmal abgesagt, weil ich nicht alleine bleiben wollte und sollte. Denn einmal hatte es ein echtes Drama gegeben, als Herbert ein Konzert in Bremen gab. Ich kam kaum zum Essen, Jana wurde immer unruhiger und schrie, trotz all meiner Versuche, ihr Tee zu geben, mit ihr herumzugehen und so weiter ... ich war so verzweifelt und heulte und schimpfte vor mich hin – völlig alleine und grässlich hilflos – unausgeschlafen und hungrig dazu. Für morgen bin ich also auf das Schlimmste gefasst.

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Sonntag, 11. Juli 1993

Ein bisher ruhiger, aber langer Tag. Jana hat kaum geschlafen, noch immer wutzelt sie schnullernd in der Wiege. Tagsüber scheint es, schläft sie überhaupt schlecht. Ab Mitternacht wird es meist unproblematisch, dann schläft sie irgendwann ein und wacht nach frühestens zwei, eher drei bis vier Stunden, in seltenen Fällen auch fünf oder sechs Stunden wieder auf. Aber morgens beginnt sie dann oft mit stöhnenden Lauten, nachdem ich sie gestillt und gewickelt habe, und der Schlaf, wenn er denn eintritt, ist entsprechend oberflächlich und leicht zu stören.

Ich zähle nur noch eine Stunde lang die Minuten, bis Herbert zurückkommt, dann fühle ich mich wohler. Zum Glück aber gab es keine Schreianfälle.

[...]

Wenn ich mir etwas zum Geburtstag wünsche, dann das möglichst rasche Verschwinden der Koliken – bis auf immer! Aber vergessen werden wir das wohl nie, so, als sei es ein »böser Traum« gewesen, wie es in einem Artikel zu diesem Thema geschrieben steht. Es ist kein Traum. Es bleibt erlebt und durchlitten und kann höchstens verdrängt werden, die Wirkung aber ist unsterblich.

[...]

Ich habe nun fast schon beschlossen, die Klavierschüler auf Oktober zu vertrösten, um zumindest im September ein wenig ausruhen zu können. So ein Sommer ohne Urlaub mit Schwerstarbeit ist einfach zu frustrierend, besonders, da ich mich so auf diese erste Zeit mit Jana gefreut habe und sie ganz anders verlief als gehofft.

[...]

Das schmatzende Schnullern hat aufgehört, bestes Zeichen für tieferen Schlaf. Ja: der Schnuller in Ruhestellung in Janas Mund, ihre Gesichtszüge haben sich entspannt: was für ein Segen!

Jana gab ihr »Zeichen«: ein verträumtes genießendes Schlafseufzen, das wir oft schon nachgeahmt haben, weil es sooo lieb klingt und unsere jungen Elternherzen höher

schlagen lässt.

Eine klappende Autotür! Und Jana beginnt wieder zu schmatzen ... Die Treppe mit Fußstapfen ...

1 ½ Stunden später schlummert Jana noch immer schnullernd. Ich habe mir währenddessen eine Melodie ausgedacht zu einem Schlaflied, das ich für Jana vor einigen Wochen geschrieben habe, als ich sie in den Schlaf sang. Die Melodie von damals habe ich leider vergessen. Außerdem klingt es mit Gitarre immer anders – natürlich ist die Tonart a-moll, meine Lieblingstonart! Ansonsten ganz einfach.

Heute habe ich nämlich seit langem die Gitarre in die Hand genommen und einige meiner Lieder gesungen. Die Hornhaut an den linken Fingerkuppen ist weg, aber sonst klappt alles noch ganz gut – trotz verzerrter Babytragearme ...

Herbert ist ganz hungrig und brät sich in der Küche ein Abendessen. Ich bin noch ziemlich satt von den Broten, die er mir für heute vorbereitet hatte.

Morgens komme ich ja nicht mal zum Schmieren und Kaffeekochen: in einer Hand `ne Scheibe Brot, im anderen Arm die kleine, aber schwere Jana ...

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Montag, 12. Juli 1993

Nun ist Jana, nach Datum, zwei Monate alt – also noch mindestens ein Monat der schlaflosen Zeit um die Koliken ...

Die letzte Nacht war sehr unruhig. Jana schlief immer nur kurze Zeit, vielleicht zwei Stunden, und beim Stillen hatte sie Blähungen und fing an zu rupfen.

Noch ist sie wach und liegt in Herberts Armen, den Schnuller im Mund. Jedes Geräusch weckt sie auf, ihre Empfindlichkeit steigt mit der Übermüdung. Und unsere Gereiztheit auch. Die schlimmste Folter ist die Schlaflosigkeit!

Kaum will ich mich hinlegen, einige Minuten der Entspannung: Jana wacht auf und schreit. Immer und immer wieder. Wie soll ich das gesund überleben???

Herbert hat Jana übernommen. Ich war ganz fertig, die Nerven angefressen, den Mut mal wieder fast verlierend ... ich duschte und schlief im Studio, später im Schlafzimmer, wo Jana in Herberts Armen eingeschlafen war und später in die Wiege gelegt wurde.

[...]

Wozu bin ich geboren worden? Um zu leiden und mich mit dem eigenen Kind nur leidend zu erweitern? Es scheint so zu sein. Meine Nervenpolster sind nicht mehr vorhanden. Selbstwertgefühl? Ich kenne es nicht mehr. Jeder Tag ist einer zu viel. Alles reizt an den Narben meiner kaputten Seele, immer immer immer wieder. Jede Verschnaufpause dient dazu, die Qualen zu verlängern – am Leben zu bleiben um zu leiden, Gedanken zu entwickeln und aufzuschreiben, die mir später um die Ohren geschlagen werden.

Es wird wieder schlimmer. Das Wort »wieder« muss ich wohl noch oft schreiben.

[...]

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Dienstag, 13. Juli 1993

Der dritte Monat hat begonnen – immerhin ... Jana hat gut geschlafen, vom Abend um 11 bis morgens um 5 Uhr, nach dem Stillen und Wickeln usw. schlief sie noch von ca. 7 bis 9 Uhr, und insgesamt ist sie viel zugänglicher.

[...]

Viel gelächelt hat sie auch schon, ich habe mich richtig lange mit ihr unterhalten können. Geknatsche gab es wenig – zum Glück eine Phase der Erholung!

Jana schläft nun sogar über Mittag – sie hat einiges nachzuholen! Der Schnuller ist dabei die ganze Zeit in ihrem Mund. Aber jetzt höre ich sie, und die Wiege wackelt – doch sie schläft noch ... wie erholsam!!!

Abends wird es wieder schwierig. Wir müssen mit ihr herumlaufen und wechseln uns ab, da die Arme wehtun. Sie ist auch dabei nicht leicht zu beruhigen. Wir machen uns auf die übliche langwierige Prozedur gefasst.

Dennoch lacht sie insgesamt mehr, sogar manchmal mit kleinen Juchzern. Auch ihre Sprache wird deutlich bunter. Ich habe schon das Gefühl, mit ihr reden zu können. Wenn ich leicht über ihre Nasenflügel streiche, lacht sie auch, es sei denn, sie ist abgelenkt von irgendeinem Furz. Es sind große und kleine Wellen der Krämpfe, die Abstände nehmen zu und wieder ab, die Länge der Schreianfälle auch.

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Samstag, 17. Juli 1993

Jana schläft wieder schlechter und weniger. [...] Hungrig ist sie z. Z. auffällig mehr als sonst. Das Stillen dauert länger, sie lässt sich mehr Zeit. Ein Wachstumsschub wird das sein ...

[...] Als ich kurz mit ihr in den Garten ging und sie von der Sonne geblendet wurde, schrie sie aus vollem Hals los, und ich flüchtete schnell zurück ins Haus, wo sie noch einige Male dick und laut loslegte.

Draußen ist es sehr schwül. In der Nacht gab es viel Regen, und nun scheint die Sonne, Wolken verdecken sie ab und zu, und der Wind weht erfrischend. Gewitterstimmung in und um Jana ...

Es ist 17 Uhr 30. Jana schläft noch immer nicht. Jetzt ist sie bald 10 Stunden lang wach, immer nur mal wenige Minuten weggedusselt ... aber kaum sitzt man kurze Zeit, wird sie wach und beginnt zu schreien ... neue Krisenzeiten, wer weiß, wie lange das heute noch geht?!?

[...]

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Sonntag, 18. Juli 1993

Jana ist ruhiger geworden – kein Wunder nach dem gestrigen Tag!

[...]

Jana trinkt viel und lange, was mich freut. Sie schläft nur kurz, wird ständig wach, sie dusselt sozusagen. Also lassen wir sie gleich im Arm liegen, abwechselnd in Herberts und meinem.

Tagsüber findet sie keinen Tiefschlaf. Draußen ist auch viel Betrieb. Die Holländer pflastern ihren Vorgarten ... was für Trampeltiere – grundsätzlich am Wochenende und am liebsten mit dicken lauten Maschinen – das geht nun schon über ein Jahr so: Unruhige Zeiten, wo wir auch sind ...

[...]

Ich arbeitete ein bisschen im Garten, was mir sehr gut tat, während Herbert bei Jana blieb, die schließlich 1 ½ Stunden schlief – ausnahmsweise. Dann kam ich zum Stillen, und nun sitze ich hier, und Herbert erzählt Jana in der Kammer, vor dem Fenster stehend, vom Schüchternen [eine Katze] und seinem Futter: Sonderangebot! Fisch mag es nämlich besonders gerne! [...]

Mein Rücken tut mir weh, aber nicht nur der. Eigentlich wollte ich Jana noch wickeln und stillen vor dem Schlafengehen – aber sie ist richtig fest eingepennt. [...] Ein Sonntagsessen zu zweit, ohne einander abzulösen beim Herumtragen von Jana! Und das mit Kartoffeln und Mangold aus dem eigenen Garten!

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Dienstag, 20. Juli 1993

Ein schrecklicher Tag. Zunächst schlief Jana gestern abend überraschend früh ein, nachdem es eine ziemlich kritische Zeit gab. Erst um 3 Uhr morgens wachte sie auf, aber dann war sie schwer zu beruhigen, ganz zappelig, und ich lief immer herum, zum Schluss ganz schnell auf und ab, und das hatte geholfen. Um 5 Uhr legte ich sie in die Wiege, aber ungefähr eine halbe Stunde später meldete sie sich wieder, und ich holte sie zu mir ins Bett.

Sie und ich schliefen noch etwas, sehr oberflächlich und immer wach werdend, um 8 Uhr stand ich endlich auf.

Die erste Zeit ging einigermaßen, ich frühstückte mehr im Gehen als im Sitzen, im linken Arm Jana, die nur einmal kurz weggedusselt war. Dann wurde es schlimmer und schlimmer, sie ließ sich nicht mehr beruhigen, lehnte alles ab, Tee, Schnuller, Brust, schrie heftiger, und ich war total überreizt, rannte herum, schlug mir selbst den Kopf, heulte, schimpfte vor mich hin – über dieses Schicksal, alleine zu sein, wenn es brenzlich wird, was sich ja nun schon oft wiederholt hat. Der Teufel steckt dahinter. Wie beschissen ich mich fühlte – eine zerfressene Seele, völlig kaputte Nerven, Übermüdung und Einsamkeit ... Immer voller Schuldgefühle, Selbsthass und Vorwürfe, ich sei eine unfähige Mutter, ungeliebter und missachteter Mensch, voller Trauer, dass ich so die Fassung und Selbstbeherrschung verliere – Grenzen ertragen müssend ... was für ein Leben! Was für eine Quälerei!

Erst am Nachmittag, als wir uns etwas beruhigt hatten, trank Jana, und ich ging weiter mit ihr im Zimmer herum, bis sie begann, die Augen zu schließen. Ich legte mich mit ihr ins Bett, sie zunächst auf meinem Bauch, dann neben mich, und – Gott sei Dank schlief sie ein! Ich schlief auch ein wenig und sitze nun hier, nachdem ich den Kartoffelsalat gegessen habe, den Herbert mir gestern aus den eigenen Kartoffeln zubereitet hatte. Er rief mittags an und erzählte, dass alles gut gelaufen sei [ein Studiogespräch beim WDR über unsere gemeinsame Aufnahme »Ziegenhainer Klangparade«, an dem ich nicht teilnehmen konnte]. Mir fehlt die nötige Selbstliebe, mich über Erfolge freuen zu können. Alles ist zum Kotzen, wenn Jana schreit. Als müsse sie sterben, so wirkt es immer auf mich, und ich mit ihr.

Es ist keine Krankheit – mein Gott, wie es die Mediziner auch nennen mögen: Es ist eine einzige Qual! Gesund ist das nicht!!! Dummes Gerede um Benennungen – fein am Kern vorbei. Dann doch lieber schweigen!

[...]

Mir wird immer ganz heiß, und ich schwitze, wenn Jana so loslegt, wie im Hochsommer.

Jana sieht so lieb aus, wenn sie schläft, und so traurig. Da wird einem das Herz ganz schwer und weich. Es möchte nur so zerfließen. Wenn ich nur meine Liebe rein halten könnte von all den hässlichen Gefühlen, die in mir hochsteigen, wenn Jana schreit. Ich fühle mich so angemacht, abgelehnt, ewig und immer wieder mit Vorwürfen vollgeschüttet, als sei einfach alles, was ich mache, die letzte Scheiße. Dann steigen die alten Geister meiner eigenen Kindheit auf und machen sich breit. Ich spüre, wie wenig ich erwünscht war als ICH, dass ich zu funktionieren hatte, als liebes Tätschelkind und Vorzeigeware, auf welchem Gebiet auch immer, vollkommen überfordert – aber was kann ein Kind anderes als funktionieren, damit es akzeptiert und am Leben gehalten wird. So ein Säugling muss ja schreien, es ist harter Kampf um die Existenz, alles oder nichts.

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Mittwoch, 21. Juli 1993

[...]

Janas Augen sind sehr schön und klar, wenn es ihr gut geht, dann guckt sie ganz lieb, neugierig und eindringlich. Manchmal schaut sie intensiv zur Decke, als wäre das etwas ganz Interessantes oder sie zählte die Fasern aus Holzspänen in der Tapete. Oft schaut sie uns lange in die Augen, sie dreht den Kopf, wenn wir sie ansprechen, in unsere Richtung.

[...]

 

 

Donnerstag, 22. Juli 1993

Eine dicke Überraschung zu meinem Geburtstag: Jana schlief ganze sieben Stunden lang! Das tat uns allen gut! Und selbst nach ihrem Frühstück schlief sie noch einmal ca. 1 ½ Stunden.

[...]

Eine neue Beruhigungstechnik hat Herbert auch entdeckt, die allerdings sehr anstrengend ist: Er geht in die Knie und wippt auf diese Weise stehend auf und ab, die angedeutete Fahrstuhlstellung ... fördert die Entwicklung von prallen Kugelwaden ...

[...]

Zum Abend hin wurde es unruhiger, und die schlimmste Zeit scheint im Moment zwischen 20 und 22 Uhr zu sein. Danach schlafft Jana meist ab, und so um 23 Uhr herum schläft sie endlich, völlig übermüdet, ein.

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Freitag, 23. Juli 1993

Jana macht sich des Nachts bestens: ca. 6 ½ Stunden schlief sie. [...]

Heute geht es ihr verhältnismäßig gut! [...] Aber das Schlimme erwarten wir dennoch, kann ja ganz plötzlich auftreten ... hoffen wir es natürlich nicht!

Staunende Eltern sitzen da um 22 Uhr bei offenem Fenster und hören den saftigen Landregen prasseln: Jana ist in meinen Armen eingeschlafen und liegt nun in der Wiege.

Da kann ich nur eines schreiben: DANKE !!!

Jutta Riedel-Henck

 

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© 2001 Jutta Riedel-Henck