Kein Schreibabys
Ein Wunschkind. Hurra, endlich schwanger. Der Vater: ein notorischer Glücksspieler, der solche Unsummen Geld ins Spielcasino trägt, daß die Mutter (selbständig, Satzbetrieb)
gezwungen ist, immer noch mehr und immer noch größere Satzaufträge anzunehmen.
Das verträgt sich schlecht mit der Schwangerschaft; keine Ruhe, keine Entspannung, keine Zeit, das Kinderzimmer herzurichten oder mit Liebe und Spaß Babysachen einkaufen zu gehen .... stattdessen
16-Stunden-Tage, 7-Tage-Wochen.
Geburtsvorbereitungskurs? Keine Zeit. Dafür dauerndes Gejammer des Vaters, der um jeden Preis eine Tochter haben will und ständig laut überlegt, wo man einen Jungen denn aussetzen würde, falls es denn
einer sein sollte .... Die Mutter – nach der Chamberlain-Lektüre „Woran Babies sich erinnern“ – in wirklicher Sorge, sie könnte tatsächlich gerade einen Knaben austragen, der durch
diesen massiven Geschlechterwunsch des Vaters schon jetzt traumatisiert wäre ....
Erschöpfend kurze Schlafetappen, wobei der in den frühen Morgenstunden heimkehrende Vater oft mit aggressivsten Wutausbrüchen die Mutter aus dem Schlaf reißt, wenn er sehr viel Geld verloren hat. Das Baby
im Mutterleib fährt dabei jedes mal fühlbar zusammen.
6. Monat: Der Vater schläft den ganzen Tag, so daß die Mutter häufig mit seinen beiden großen aggressiven Hunden spazieren gehen muß. Der eine reißt sie um, sie stürzt, fällt ungebremst auf den Bauch.
7. Monat: Umzug. Der Vater taucht sicherheitshalber ein paar Tage unter. Aufgrund des Geldmangels läßt die Mutter nur die schwersten Stücke (Klavier, Waschmaschine) von einer Firma transportieren, den
Rest schleppt sie nach und nach selbst in den 3. Stock, wo sie alles wieder zusammenbaut und aufstellt. Freunde und Verwandte mag sie nicht um Hilfe bitte, weil sie sich für den Drückeberger-Partner
schämt.
Durch das schwere Tragen setzen vorzeitige Wehen ein. Die Mutter legt sich hin, streichelt und beruhigt ihr Kind, versucht, mit ihm zu vereinbaren, daß es für die Geburt noch zu früh ist. Es funktioniert.
9. Monat: Der größte Verlagskunde übergibt ein technisches Buch zum Satz, 150 Seiten, bergeweise Tabellen- und Formelsatz und mehrere hundert zu erstellende Grafiken. Die Mutter weiß, daß es riskant ist,
den Auftrag anzunehmen. Wenn das Kind zu früh kommt oder irgend etwas schief geht, gibt es niemanden, der in den Auftrag einsteigen kann. Aber der Kühlschrank ist leer, die Miete nicht bezahlt ....
Die Mutter macht aus den 16-Stunden-Tagen 20-Stunden-Tage, sitzt fast ununterbrochen am Computer. Nach einer letzten 38-stündigen Nonstop-Schicht ist um Mitternacht die Fahne lieferfertig. Sie setzt sich
ins Auto und wirft den dicken Umschlag noch beim Verlag ein; erleichtert, jetzt dann endlich schlafen zu können, 2 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin.
Sie legt sich gerade hin, als die Wehen anfangen. Ganz mild, doch schon nach einer Stunde kommen sie sehr heftig und in 3-Minuten-Abständen.
Klinik. Die Wehen bleiben gleich heftig und regelmäßig, doch auch nach 14 Stunden ist der Muttermund noch nicht einmal einen Zentimeter geöffnet. Man beschließt, die Wehen medikamentös zu stoppen. Der
Versuch mißlingt. Nach 17 Stunden ein neuer Entschluß: Die Wehen müssen stattdessen verstärkt werden. Wehenhormone ....
Enormer Streß für Mutter und Kind. Nach fast 24 Stunden ist es dann geschafft. Das Baby ist viel zu erschöpft, um zu schreien. Die Mutter, am Ende ihrer Kräfte, läßt zu, daß man das Baby ins
„Babyzimmer“ bringt, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihr Kind keine Sekunde aus der Hand zu geben, nachdem die Chamberlain-Lektüre ihr deutlich gemacht hatte, welches Trauma das für das
Neugeborene darstellt.
Sie kann ohnehin nicht schlafen, ist hellwach wie jede Mutter nach der Geburt. Sie hört ein Baby schreien und ist sicher: Es ist meines. Sie steht auf, will es zu sich holen, kollabiert. Das Baby bleibt
für weitere 5 Stunden im Babyzimmer, dann holt die Mutter es und fährt damit „auf eigene Verantwortung“ nach Hause.
Stunden später bringt der Kurier neue Arbeit, ein riesiger Berg Autorkorrekturen eines anderen Kunden. Sie macht sich sofort wieder an die Arbeit. Das Baby ist immer dabei, wird gestillt, wenn es weint,
aber niemals nach der Uhrzeit. Sie nimmt es mit zu Kunden, zu Autoren, überall hin. Nicht die mindeste Regelmäßigkeit im Tagesablauf. Leben und Arbeiten in einer winzigen 3-Zimmer-Wohnung inkl. der
beiden großen Hunde, die der Vater auf keinen Fall hergeben wollte (Stichwort „Allergene“).
Das einzige, was für dieses Baby nicht schiefgelaufen ist, ist die starke Liebe der Mutter. Aber diese Liebe bekommen wohl alle „Schreibabies“.
Wer nun nach Ursachen suchen möchte, warum dieses Baby ein Schreibaby ist, kann praktisch jede Zeile anstreichen. 1000 mögliche Ursachen, Schuldige, Gründe ....
Aber: Dieses Baby ist kein Schreibaby und war niemals eines.
Das Baby ist meine Tochter und inzwischen ein fast 8 Jahre altes, fröhliches, aber sehr sensitives Mädchen ... also mitnichten eine „Roßnatur“, die all das einfach „weggesteckt“ hat.
Natürlich ist es nur ein Kind von Millionen, beweist damit gar nichts, aber vielleicht macht es der ein oder anderen verzweifelten Mutter klar, daß ihr Schreibaby nicht der mütterlichen Fehler wegen
schreit.
Wäre meine Tochter ein Schreibaby gewesen, hätte ich mich vermutlich aus dem Fenster gestürzt angesichts all der aufgezählten möglichen Ursachen, die einzig und allein mir als Mutter-Versagerin
anzukreiden sind .... mir und meiner damaligen Unfähigkeit, für geordnete Verhältnisse zu sorgen, wie man sie sich für ein Baby wünscht.
Ich verstehe nicht viel von diesem Thema, nur eines: Babies haben eine gewaltige Toleranz den Fehlern ihrer Eltern gegenüber .... vielleicht erwarten sie einfach nur dieselbe Toleranz von uns Eltern.
Carmen Reinhardt, Mai 2001
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